Panel “Regieren(d) beobachten” auf der IB-Sektionstagung

IB-Sektionstagung 7.-9. Oktober 2020 in Freiburg

Regieren(d) beobachten. Ethnographisches Teilnehmen in der internationalen Politik

Chair: Felix Anderl, University of Cambridge,
Diskutantin: Eva Johais, Universität Bremen

Panel Abstract:
R.L. Gold formulierte im Jahr 1958 vier Rollen der Ethnographin: vollständige Teilnehmerin, beobachtende Teilnehmerin, teilnehmende Beobachterin und vollständige Beobachterin. Dieses Rollenkontinuum stellt ForscherInnen in den Internationalen Beziehungen vor besondere Herausforderungen: Während die vollständige Teilnahme uns zu PolitikerInnen oder DiplomatInnen werden ließe, führt die vollständige Beobachtung in den meisten Fällen zum Ausschluss. In der Praxis nehmen ForscherInnen zumeist eine der beiden Mischformen ein, was allerdings methodologische und ethische Probleme keineswegs löst. Die Erforschung von Feldern bzw. Praktiken der internationalen Politik verlangt ForscherInnen immer wieder Entscheidungen über ihre Rolle ab und erfordert eine Verortung in transnationalen Machtstrukturen. Hierbei stellen sich unbequeme Fragen: Werden Politikkonzepte oder Machtansprüche von individuellen oder kollektiven Akteuren durch die Teilnahme legitimiert oder gar ermöglicht? Werden wir ForscherInnen in gewisser Weise selbst zu Regierenden in wissensbasierten Formen internationalen Regierens? Wie lassen sich solche Effekte in der Praxis umgehen oder reflektieren? Und wie wirkt sich die Verwobenheit mit der Macht wiederum auf die Outputs der Forschung aus? In diesem Panel präsentieren ForscherInnen ihre teilnehmende Forschung in Institutionen, Foren und Netzwerken der internationalen Politik. Sie zeigen anhand ihrer empirischen Projekte wie sie mit ihrer Zwischenrolle produktiv umgegangen sind und arbeiten dabei heraus, welche methodologischen und ethischen Konsequenzen das Teilnehmen am internationalen Regieren hat.

Schlagwörter: Ethnographie, Reflexive Forschung, Positionalität, Forschungsethik, Global Governance

Abstracts der Beiträge in alphabetischer Reihenfolge:

Transnationale Bergbauunternehmen beobachten

Alexandra Bechtum

Die Ausweitung des Mega-Bergbaus lässt sich als globales Phänomen in zahlreichen Ländern des Globalen Südens beobachten und geht in den Abbauregionen mit weitreichenden territorialen Transformationsprozessen einher. Transnationale Bergbauunternehmen etablieren sich in diesem Kontext als „globale private Autoritäten“ und reichen in den Dörfern der unternehmerischen Einflusszone zunehmend in staatliche Bereiche hinein. Die Teildisziplin der Internationalen Beziehungen beschäftigt sich zwar mit globalen Phänomenen. Diese jedoch in ihren lokalen Ausprägungen zu untersuchen, macht ein Überdenken methodologischer Herangehensweisen erforderlich.
Ausgehend von einem Bergbauprojekt in Argentinien diskutiere ich in diesem Paper, wie mithilfe der politischen Ethnographie globale Phänomene untersucht werden können. Ich argumentiere, dass die Mikro-Politik der transnationalen Bergbauunternehmen in den unternehmerischen Einflusszonen nur durch multiple Formen der teilnehmenden Beobachtung sichtbar gemacht werden können. In einem ersten Schritt rekonstruiere ich die Beziehungsmuster zwischen transnationalen Unternehmen und lokalen Gemeinschaften. Zweitens zeige ich, dass ein Fokus auf formale Interaktionsmechanismen nicht ausreichend ist und es vielmehr Einblicke in informelle Regelungen und Verhandlungen sowie in alltägliche Begegnungen bedarf. Drittens skizziere ich, wie im ethnographischen Beobachten von globalen Phänomenen die Frage nach Nähe und Distanz im Forschungsprozess in jeder Beobachtungssituation neu überdacht werden muss. Gegenüber herkömmlichen politikwissenschaftlichen Methoden bietet die politische Ethnographie angemessene Werkzeuge, um politischen Aushandlungs- und Veränderungsprozesse jenseits formeller politischer Arenen nachzuspüren und dabei Machtbeziehungen und -demonstrationen sichtbar zu machen.

Schlagwörter: Rohstoffe, politische Ethnographie, transnationale Unternehmen, Konflikte, community relations

“We are in this together!” – Positionalitäts-Dilemmata ethnografischer Forschung in den IB

Anne Hennings

Für meine Doktorarbeit forschte ich unter Anwendung des ethnographic peace approach (Millar 2014, 2018) zu Landkonflikten und Widerstand in den Nachkriegskontexten Kambodscha und Sierra Leone. Meine Forschung umfasste die Auseinandersetzung mit einer Vielzahl an Akteuren, die teilweise kooperierten oder auch in Konflikt zueinander standen. Die politische Sensibilität der Thematik führte dazu, dass ich immer wieder die Risiken für meine Gesprächspartner*innen (sowie mich) abwägen musste und mich zudem regelmäßig in Positionalitäts-Dilemmata wiederfand. Während mich vor allem Plantagenmanager, lokale Autoritäten oder Beamte entweder als neutral sahen und meine Expertise schätzten bzw. mir mit Skepsis begegneten, empfanden Gemeindemitglieder, Aktivist*innen, Plantagenarbeiter*innen und NGO-Mitarbeiter*innen meine Forschung oft als aktivistisch und sahen mich entsprechend als Teil ihres Kampfes. Ich argumentiere, dass die Haltung des critical engagement (Routledge 1996) hilft, die Forscherinnen-Aktivistinnen Binarität zu überkommen. Dies erlaubte mir verschiedenste Rollen im Feld einzunehmen; als Akademikerin, Bekanntschaft, Freundin oder eben auch Aktivistin. Das bedeutet aber auch, das die Forscherin in einem komplexen Machtgeflecht navigiert und besonders darauf Acht geben muss, wem sie mit ihrer Anwesenheit (auch ungewollt) Legitimität verleiht. Gleichzeitig müssen die zu publizierenden Ergebnisse, von denen die Gesprächspartner*innen in unterschiedlichem Ausmaß profieren, sorgfältig ausgewählt werden. Insbesondere Unternehmen und Regierungen könnten Analysen von Widerstandsstrategien oder Konfliktlinien innerhalb betroffener Gemeinden missbrauchen. Auf der anderen Seite half mir meine Position im Feld, den informellen Austausch zwischen betroffenen Gemeinden, Aktivist*innen und Akteuren der Zivilgesellschaft in jedem Land, aber auch zwischen Kambodscha und Sierra Leone, zu fördern. Schließlich konnte ich als „Insider-Outsider“ zu politischen Debatten beitragen, indem ich öffentliche und private Diskussionen mit nationalen und internationalen Hauptakteuren führte.
Schlagwörter: Forschungsethik, Positionalität, do no harm, critical engagement, Legitimität

It all runs in the family: Intertwining settler colonialism and IR along a multi-sited historical ethnography

Franziska Müller

Sometimes, family holidays lead to strange encounters. Going through old letters of my late grandmother in December 2018 I realized that my father’s family, who dwelled in small Swabian and Hessian towns has a connection to US settler colonialism. I found that not only some of my ancestors had emigrated to the US in the 1830s, but, acting as assistant attorney-general for the territory of Dakota, one of them had also been involved in the creation of a frontier state and its everyday litigation issues. This ‘echo of empire’ has left me puzzled and sad, and has in the end created a desire to trace and decolonize my family’s history and relate this to the ways in which historical IR has so far underscored the figure of the German US emigrant.
During the past months I have been engaging in email conversations with remote family members, and I have traced some artefacts – newspapers archived in the town of Bismarck/North Dakota, that give an account of my great-great uncle’s activities and the ‘banality of the evil’. Numerouse entries into my research diary allowed me to reflect on this process of contextualizing and decolonizing family history. More stations will follow: a visit to the German emigration museum in Bremen and probably a trip to Bismarck and to indigenous history groups. The stations of my journey take account of these questions as well as of my own role in being a family member, a scholar in the field pf postcolonial IR, and an activist. I find myself oscillating between complacency, distance, a search for allyship and, not least, insecurity.
My journey has however clarified that my experiences are expanding from being a single (and to some extent, generic) family story towards more intricate questions: Does settler colonialism have a place in (Historical) IR? How is the figure of the German emigrant painted in a romantic way that creates gruesome parallels to the horrors of the ‘Middle Passage’? How does this erase Germanness from being part of the settler colonial relationality and, consequently, a responsibility for its atrocities? What would a Global History of settler emigration look like – and what would be IR’s role in this regard? My paper takes account of this quest and intertwines analysis and biographical reflection.

Schlagwörter: Settler colonialism, colonial relations, multi-sited ethnography, emigration, Historical IR

Rollenwechsel und Machtverhältnisse während der teilnehmenden Beobachtung. Erfahrungen, Reflexionen und Handlungsempfehlungen

Samantha Ruppel & Alena Sander

Ganz gleich, ob eine Forschung in der Rolle der vollständigen Teilnehmerin, der vollständigen Beobachterin oder einer Mischform geplant ist – schon vor der stattfindenden Beobachtung sollte sich die ethisch-forschende Ethnographin mit den möglichen Machtpositionen auseinandersetzen, die sie im Feld durch das Besetzen einer dieser Rollen innehaben könnte. Dies ist umso wichtiger in Fällen, in denen die Machtposition der Forscherin durch weitere Aspekte, wie zum Beispiel einen Nord-Süd-Charakter im Feld, verstärkt werden kann, da dies eine noch genauere Reflexion erfordert.
Das vorliegende Paper weist auf die Schwierigkeit hin, sich als Forscherin ausreichend auf eine geplante Beobachtung vorzubereiten. Die Problematik, auf welche das Paper hinweist, ist das oft schwer vorhersehbares „Eigenleben“, welche teilnehmenden Beobachtungen typischerweise führen, und welches dazu führen kann, dass sich Rollen im Laufe einer Beobachtung verändern und entwickeln. Dies wiederum übt Einfluss auf die von vornherein bestehenden Machtstrukturen aus und kann diese noch verstärken. Das Paper ist daher ein Plädoyer für eine möglichst offene Haltung während der teilnehmenden Beobachtungen, welche es der Forscherin erlaubt, selbstreflektiert mit einem möglichen Rollenwechsel umzugehen.
Das Paper gibt Einblick in unterschiedliche Formen der teilnehmenden Beobachtungen lokaler zivilgesellschaftlichen Organisationen in Sierra Leone, Liberia, Kenia und Jordanien. Es beleuchtet die jeweils bestehenden Machtstrukturen zwischen den zwei deutschen Forscherinnen und ihren Feldern. Es setzt anschließend einerseits einen Schwerpunkt auf die Rollenentwicklungen, die die Autorinnen während ihrer Beobachtungen durchlebt haben, sowie deren Einfluss auf eben diese Machtstrukturen. Andererseits zeigt es mögliche Lösungswege auf, welche den Forscherinnen im Kontext der einzelnen Beobachtungen dabei halfen, ihre neuen Rollen selbstreflektiert und machtkritisch anzunehmen.

Schlagwörter: Teilnehmende Beobachtung, Rollenwechsel, Machtstrukturen, Nord-Süd-Forschung, Peacebuilding, Entwicklungszusammenarbeit